Die Überzeugungskraft der Spiegelstriche

Bis heute wird sie zitiert, die große Regierungserklärung des neu gewählten Willy Brandt aus dem Oktober 1969. Der sozialdemokratische Kanzler traf damals mit seinen Worten genau die Emotion des Augenblicks. Seine Rede berührte die Menschen, weil sie modern war. Sie berührte, weil sie auf den Punkt brachte, was so viele junge Menschen fühlten.

Es ist schön zu wissen, dass es ein Sozialdemokrat damals schaffte Jugendliche so zu motivieren, dass sie zu Tausenden in die SPD eintraten. Und es ist schön, wenn noch heute in hunderten sozialdemokratischen Bewerbungsreden Brandts entscheidende Zeilen von damals zitiert werden:

„Unser finanz- und wirtschaftspolitisches Sofortprogramm (…) enthält die aktive Mitarbeit der Bundesregierung an einer stärkeren Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und an der notwendigen Weiterentwicklung des Weltwährungssystems.“

Es müssen diese großen und weitsichtigen Worte gewesen sein, die damals tosenden Applaus auslösten. Wie sehr jene Zeilen die Jugend damals angerührt haben müssen, können wir uns heute kaum noch erdenken. Aber wie sonst ließe sich erklären, dass so viele Sozialdemokraten den Stil dieser Zeilen zu ihrem eigenen machten. Im tiefsten Inneren müssen diese programmatischen Zeilen hinter einem kleinen Spiegelstrich die Menschen damals ergriffen haben. Und so verwundert es kaum, dass jeder sogleich weitere Spiegelstriche des großen Willy Brandt auswendig zu rezitieren weiß:

„Eine Finanzpolitik, die eine graduelle Umorientierung des Güterangebots auf den Binnenmarkt hin fördert“ flüstern sich die Genossen zu, wenn sie vom Willy-Wählen schwärmen und ein nächster ergänzt gerührt die Zeilen „die Fortsetzung und Intensivierung der bewährten Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und Unternehmensverbänden im Rahmen der Konzertierten Aktion, an der in Zukunft auch Vertreter der Landwirtschaft teilnehmen werden“.

Es kann nur dem Alter vieler Genossinnen und Genossen geschuldet sein, dass sich diese Zeilen nicht auf youtube finden. Dort haben kleingeistige und kurzsichtige Phrasendrescher einen anderen Teil der Regierungserklärung eingestellt. Es sind die inhaltsleeren Worte: „Wir wollen mehr Demokratie wagen!“ Es muss schon ein unerhörtes Unverständnis von der Politik dahinter stecken, wenn man glaubt, das vielschichtige Programm der Fakten, Daten, Spiegelstriche des Willy Brandt ließe sich auf solch eine kurze Formel verkürzen. Emotionsduselei, statt echter Programmatik.

Und es blickt der Sozialdemokrat mit Wut im Bauch auf die Friedrich-Ebert-Stiftung und ihre Dokumentation zum Parteijubiläum. In Zitaten, Ton- und Filmausschnitten hat die eigene Stiftung die Sache verraten. Phrasen, und emotionalen Schnick-Schnack statt wahrem Inhalt. Als wenn, zu irgend einem Zeitpunkt, auch nur ein einziger Mensch – bei wachem Verstande – solch Worthülsen zum Anlass genommen hätte, die SPD zu wählen.

Darum beruhigt es mich als Mitglied dieser Partei, dass wir uns nicht beirren lassen, von derartiger Irritation. Wir tun gut daran Wahlprogramme, große Reden, Kandidatenflyer, Newsletter und facebook-Postings in erprobter Weise mit Spiegelstrichen zu befüllen. Denn jene Spiegelstriche, jene großen Inhalte der SPD haben stets und werden wieder Menschen von uns überzeugen. Lasst uns mehr 10-gute-Gründe-Flyer wagen! Glück auf!

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