Erik Flügge: Rede zu 70 Jahre Grundgesetz

Festrede von Erik Flügge anlässlich des 70. Jahrestages der Verkündung des Grundgesetzes auf Einladung der Stadt Brühl am 23. Mai 2019 im Kapitelsaal des Rathauses.

Mitschnitt der Rede zum Nachhören.

Ihr Menschen von Brühl,

mit diesen Worten beginne ich meine Rede zur Feier unseres Grundgesetzes. 

Ihr Menschen von Brühl, 

unabhängig von Geschlecht und Herkunft, unabhängig ob ihr Staatsbürgerinnen und Staatsbürger seid, unabhängig von Titeln und Besitz, unabhängig von Bildung und Macht und Religion und unabhängig davon, wen ihr liebt und wie ihr lebt, ihr seid allesamt gleich an Würde, gleich an Menschenrechten in unserem Staat. Unser Grundgesetz ist universal. Es garantiert jedem Menschen sein Recht auf Leben und Freiheit und was ist denn mehr eine Feier wert als das ausgerechnet in Deutschland – ausgerechnet in Deutschland wert. 

Soviel zu Theorie. 

Theoretische Reden werden heute sicherlich in ganz Deutschland genug gesprochen. Fast alle beginnen sie mit den Worten „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und drehen sich dann lange um die kluge innere Konstruktion unserer Demokratie, in der ein starkes Verfassungsgericht und ein starker Bundestag die Freiheit garantieren und aus der eine stabile Demokratie erwachsen ist. Wir haben offensichtlich aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. 

Aber eine Rede über Gestern, die bekommen sie von mir einfach nicht. Denn da wohnen sie zwar schon alle zwischen den großen Universitäten in Köln und Bonn, aber offensichtlich hatte heute Abend kein emeritierter Verfassungsrechtsprofessor für sie Zeit, um ihnen 30 Minuten lang theoretisch zu belehren, wie genau im Detail der Staat gelungen ist. 

Sie haben dann als Notbehelf so einen Typen Anfang 30 organisiert. Nicht mal graue Haare hat er, aber Gottlob, es ist noch ein bisschen wie in der guten alten Zeit: Immerhin spricht keine Frau. 

Da müssen sie jetzt durch. – Ein Blick auf die Praxis statt auf die Theorie. Eine Perspektive auf unsere Verfassung aus den Augen von einem, für den die Gleichstellung von Mann und Frau völlig selbstverständlich ist, dessen Eltern in keinem Krieg kämpften, der sich an die deutsche Teilung nicht erinnern kann, der Diktatur nur vom Hörensagen kennt. Eine Perspektive der dritten Generation, die sich längst abgewöhnt hat, staatstagende Reden zu schwingen über die Verfassung, weil wir nichts anderes kennen als mit unserer Verfassung zu leben.

Warum ist unser Grundgesetz wie es ist? Und warum ist es so wie es ist für mich etwas wert?

Ich habe diverse Menschen gefragt, die heute genau wie ich an anderer Stelle eine Rede zum Grundgesetz halten, worüber sie sprechen. Sie reden allesamt über seine Entstehung. Sie beschwören erneut das Scheitern der Demokratie und das Unrecht der Diktatur, um zu erklären, warum unser Grundgesetz ist wie es ist. Sie loben, wie lange es unsere Gesellschaft nun schon davor bewahrte immer und immer wieder neu vom gleichen Wahn der Autorität befallen zu werden, dem sie sich selbst schon viel zu oft hingab. Sie reden von vor 70 Jahren und plötzlich ist alles im Grundgesetz so klar, so logisch und gut. Aber gilt das 2019 noch? 

Ich finde, es muss nach 70 an der Zeit sein, den Wert unseres Grundgesetzes nur aus sich selbst heraus zu begründen. Ich will sie nicht hören die 70. Rede über den Nationalsozialismus und den parlamentarischen Rat. Ich will nicht hören, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes dies oder jenes dachten und wollten und noch weniger will ich es selbst vortragen. Ich will nicht noch Weimar besprechen, wenn selbst meine Großmutter die Weimarer Republik nur als kleines Kind sah.  

Ich kenne die Leute aus dem parlamentarischen Rat von 1948/1949 nicht, ich habe sie nicht gewählt, ja die meisten davon waren schon tot, bevor ich geboren wurde. 

Was sie wollten, ist mir egal. Für mich, wie für jeden Menschen in unserer Gesellschaft zählt, ob dieses, unser Grundgesetz heute für mich, für Sie, für uns zusammen funktioniert.

Beginnen wir also tatsächlich ganz vorne. Was wir wollen. 

Liebe Festgäste, 

ich habe ein Problem. Ich weiß nicht, was wir wollen. Denn ich weiß nicht, was sie wollen. Wahrscheinlich leben sie und ich ein anderes Leben. Ich mag es mir ja kaum vorstellen, aber sie wohnen ja alle irgendwie in Brühl und ich Köln. Das heißt, sie leben unter den Bedingungen einer funktionierenden Stadtverwaltung. Das kann ich mir ja überhaupt nicht vorstellen. In einer schönen Stadt mit einem Park, der mehr ist als einfach eine Wiese. Wahrscheinlich sind sie sogar verheiratet. Ohgottogott und im schlimmsten Fall dabei sogar treu. 

Jetzt hätten Sie gerade ein paar Gesichter sehen sollen. Das war Gold wert. Keine Sorge, verfassungsrechtlich dürfen sie auch das Gegenteil von Treue – im Rheinland mit der Einschränkung, dass Sie bei Gelegenheit entweder beichten oder einen Nubbel verbrennen. Die Würde des Menschen ist unantastbar, außer es ist Karneval.  

Wahrscheinlich teilen wir wenige Überzeugungen. Wahrscheinlich können wir uns in wenigen Fragen einig werden. Aber wenn dem so ist, dann möchte ich aber sichergestellt wissen, dass es kein Mittel gibt, dass sie mir meine Perspektive nehmen dürfen und dass zu ihrem Schutz es kein Mittel gibt, dass ich ihnen ihre Perspektive nehmen kann. Ich will nicht, dass sie mich mit meinen Gedanken vertreiben können und dass ich sie mit ihren Gedanken nicht vertreiben kann. Ich will nicht, dass sie mich zum Schweigen bringen und im Gegenzug will ich sie nicht zum Schweigen bringen. Ich will nicht, dass ausgerechnet sie darüber bestimmen, wie ich zu leben habe und ich will nicht bestimmen, wie sie zu leben haben. 

So einfach uns dieser Grundsatz erscheint, so sehr ist er doch eine kritische Anfrage an unsere Gesellschaft von heute. Erlauben wir denn wirklich jedes Leben oder sind wir gefangen in der limitierten Welt unseres eigenen, selbst gelebten Lebens. 

Lassen sie zu, dass drei Menschen, die sich lieben, zu dritt heiraten dürfen? Lassen wir zu, dass Leute an Karfreitag tanzen? Wollen wir zulassen, dass Frauen Kopftuch tragen? Lassen wir wirklich zu, dass jeder Mensch seine Religion leben kann, oder war die Lehre unserer Gesellschaft aus „Nie wieder Judenhass“ – „Dann ist jetzt halt der Moslem dran!“ 

Glauben sie, das Grundgesetz sichert die Freiheit eines jeden Menschen? 

Es ist dieses, unser Grundgesetz, auf das wir stolz sind, das wir heute feiern, das lange festlegte, dass uneheliche Kinder nicht gleichgestellt sein sollten mit ihren Halbgeschwistern.

Es ist dieses, unser Grundgesetz, in dessen Rahmen Frauen jahrzehntelang noch eine Unterschrift ihres Mannes brauchten, um eine Arbeit aufzunehmen und das zuließ, dass die Vergewaltigung in der Ehe straffrei blieb bis in die 90er. 

Es ist dieses, unser Grundgesetz, in dessen Namen Polizisten mit Brutalität gegen schwule Männer vorgingen und die hierarchiefreie Liebe zweier Menschen verurteilt wurde – wohlgemerkt von unserem gefeierten Bundesverfassungsgericht.

Es ist dieses unser Grundgesetz, das in den Kategorien von Mann und Frau geschrieben wurde und bis heute nicht anerkennt, dass es Menschen gibt, die sich außerhalb dieser Kategorien sehen. Wollen wir es zulassen, dass die leben sollen wie die leben wollen?

Es ist dieses, unser Grundgesetz, das den ökonomischen Rahmen definiert, in dem ganz wenige immer schneller immer reicher werden und mittlerweile rund 40 Prozent der Gesamtbevölkerung perspektivlos geworden sind. 

Es ist dieses, unser Grundgesetz, das unsere Schulen regelt, aber seltsamerweise sind es immerfort die Kinder der immer gleichen Elternhäuser, die in unserem Bildungssystem scheitern. 

Es ist dieses, unser Grundgesetz, mit dem man scheinbar in Einklang bringen kann, wie wir europäische Grenzsicherung betreiben, die für tausende Menschen im Mittelmeer zur Todesfalle wird, während Seenotretter vor Gericht gestellt werden. 

Niemand in all diesen Beispielen wurde oder wird geschützt von den Worten der 19 Grundrechtsartikel. Sie haben einfach alle Pech gehabt.  

Das Entscheidende, was wir begreifen müssen über unsere Verfassung. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist kein automatischer Schutz jedweden menschlichen Lebens, so denn unsere Gesellschaft nicht zu der Überzeugung gelangt, dass dieser Teil des Lebens unseren Schutz verdient. Es verteidigt die Würde des Menschen nur so weit, wie wir, die wir in Deutschland leben, bereit sind die Würde eines Menschen zu verteidigen. Das Grundgesetz ist eine Ermahnung an, aber keine schlussendliche Sicherung der Menschlichkeit. 

Das ist der fahle Beigeschmack, den unsere Demokratie hat. Die hehren Ziele, der hehre Anspruch, der in Artikel 1 unseres Grundgesetzes formuliert wurde, wurde trotz seiner Wortgewalt real nie erreicht. Die Würde des Menschen ist unantastbar, aber zum Glück hat keiner gesagt, was Würde heißt. 

Ich verspreche Ihnen, je länger sie nachdenken über den Text unseres Grundgesetzes im Verhältnis zu unserer wahrhaftigen Gesellschaft, je nüchterner sie ihn betrachten, desto trauriger können Sie werden: 

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. 

Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.

Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. 

Nein, ihr Menschen von Brühl, kein Grundgesetz kann uns davor bewahren, dass wir selbst mit den Prinzipien der Freiheit und Humanität brechen. Es gibt kein Grundgesetz gegen Geheimdienstüberwachung, wenn wir selbst Angst vor Terror haben. Kein Grundgesetz hilft gegen Klimazerstörung, kein Grundgesetz gegen Ankerzentren und fehlende Seenotrettung, kein Grundgesetz gegen Obergrenzen, gegen Mietwucher und gegen Steuerhinterziehung und gegen die Konzentration von Kapital. Es gibt kein Grundgesetz, das uns sicher frei macht von Not und Angst, so wir selbst nicht frei davon sein wollen. 

So langsam Herr Bürgermeister Freytag , stellen Sie sich wohl die Frage, wen Sie sich da eingeladen haben. Wie es passieren konnte, dass aus der Idee einer lebendigen Feier zum Verfassungsjubiläum eine Leichenschau wurde. Wie sich in dieser illustren Runde nun alles darum drehen kann, dass unsere Verfassung nicht hält, was sie verspricht. 

Ich kann und will das Sezieren des Körpers unseres Staates noch weiter treiben. Denn nicht ich, nicht meine Generation hat in den Verfassungsleib mal aufgerissen und ausgeweidet und ihn ausgeweidet. Es passierte vor unserer Zeit, als zum ersten Mal die Mutlosigkeit die deutsche Demokratie erfasste. Als man wie ein Geschwür aus blanker Panik die Notstandsgesetze in das Grundgesetz hineingeschoben hat. Sie bringen im Falle eines Falles alle Freiheit um. 

Warum soll ich stolz auf ein Grundgesetz sein, das zwar solide unsere Demokratie organisiert, aber an dessen Anspruch wir beständig scheitern. Warum ändern wir nicht unseren Verfassungstext auf eine Formel, die wir bereit sind zu erfüllen. Warum werden wir nicht ehrlicher. 

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, aber selbstverständlich darf das die Interessen der Schlüsselindustrien nicht berühren. Beim Diesel ist Schluss.

Das Briefgeheimnis gilt weiterhin, aber sobald es um digitale Kommunikation geht, liest der Geheimdienst einfach mit. 

Eigentum verpflichtet zum Zahlen von Steuern. Das war’s. 

Politisch Verfolgte bekommen Asyl, außer es werden gerade zu viele politisch verfolgt oder es ist demnächst bayerische Landtagswahl. 

Sind Sie noch stolz auf dieses Grundgesetz und was wir daraus machen? Verstehen Sie, warum sich in Deutschland kein Verfassungspatriotismus entwickelt? – Ich weiß nicht, ob Sie fliegen – sollen Sie ja nicht mehr tun, aber wenn sie es in letzter Zeit mal gemacht haben: Am Kölner Flughafen stehen auf der Wand, wenn Sie ankommen nicht die Artikel des deutschen, sondern des rheinischen Grundgesetzes. Mit denen identifizieren sich hier in der Gegend auch viel mehr Menschen. Weil man sie erfüllen kann: Kenne mer nit, bruche mer nit, fot damit. Wat fott es, es fott.

Es gibt keinen Verfassungspatriotismus, weil es keine Bereitschaft gibt, diese unglaubliche ambitionierte Verfassung als innere Verfasstheit anzunehmen. 

Die Würde des Menschen ist unantastbar, außer der Mensch passt uns mal wieder nicht. 

Meine Damen und Herren, 

Wir stehen mitten in einer Ruine und man muss sie sehen, um zu verstehen, was unser Grundgesetz ist. Ein Utopia, unerreicht fern und dennoch mit menschlichem Willen erreichbar. Ein Anspruch an Menschlichkeit, ein Anspruch an Freiheit, der als er formuliert wurde, hineingesprochen wurde in eine Gesellschaft, die das Gegenteil davon bedingt hatte. „Von dem Willen beseelt, in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.“ heißt es in der Präambel des Grundgesetztes – Dem Frieden der Welt in einem vereinten Europa. Ausgerechnet von Deutschland aus. Ausgerechnet von diesem Deutschland aus. 

Und wie sehr sind diese Worte des Grundgesetzes heute wahrer geworden, als damals als man sie schrieb. Weil Adenauer und De Gaulle, die sich für das genaue Gegenteil im Rahmen der Verfassung hätten entscheiden können, sich entschieden statt fortgeschriebener Feindschaft im Westen das Mittel der Freundschaft zu erproben. Weil Brandt, der sich für das genaue Gegenteil im Rahmen unserer Verfassung hätte entscheiden können, sich entschied statt fortgeschriebener Feindschaft im Osten das Mittel der Annäherung zu versuchen. „Von dem Willen beseelt, in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.“ 

Unser Grundgesetz ist wie der Kölner Dom. Eine unbegreifbar große Idee und Baustelle zugleich. Diejenigen, die sie zuerst hatten, glaubten daran, dass er errichtet wird und legten den ersten Stein. Aber sie wussten auch, dass sie den Dom niemals in all seiner Pracht erblicken werden. 

Nicht anders ist es mit dem Utopia der bundesdeutschen Demokratie. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ruft es in die Welt, als wäre diese Kathedrale der Menschlichkeit schon Wirklichkeit geworden. Dabei ist das Grundgesetz nur der Grundstein, auf dem sich die innere Haltung, die das Grundgesetz so mutig statuiert, erst errichten muss. 

1516 schreibt der heilige Thomas Morus „Denn an Scylen und habgierigen Celänonen, an menschenfressenden Lästrigonen und dergleichen abscheulichen Ungetümern fehlt es fast nirgends in der Welt; aber eine heilsame und weise Staatsverfassung – das ist ein gar seltenes Ding.“ 

Heilsam sollte das Grundgesetz sein – heilsam und weise musste es sein, damit die zweite deutsche Demokratie nicht scheitert wie die erste. Es musste eine innere Organisation des Staates vollbringen, in dem die Kräfte zur Kooperation statt zur Konfrontation gezwungen sind, es musste Mächte limitieren und verschränken und den Wohlstand der breiten Masse ermöglichen. All das hat unser Grundgesetz geschafft, aber ein rein formal-juristisch korrekt funktionierendes Deutschland bringt keine Heilung von der Krankheit der Unmenschlichkeit. 

Kein formal-korrekt funktionierendes Deutschland kann allein Begeisterung entfachen für das Staatsziel unserer Republik: Die globale Menschlichkeit. 

Kein Organisationsstatut eines Staates bedingt die Heilung der Seele eines Volkes. Genau deshalb wurde die Kathedrale der Grundrechte auf den Trümmern Deutschlands mit bis in den Himmel hinauf ragenden Pfeilern aus Menschlichkeit begonnen. Und genau wie jahrhundertelang der Dom in Köln wurde diese Kathedrale noch nicht vollendet. Sie steht halbfertig zwischen uns und manche schreiende Vogelschar hat sich mittlerweile darin eingerichtet. Wir haben vergessen, daran weiterzubauen. 

Wir sind zu gleichgültig geworden gegenüber dem Bauplan einer menschlichen Gesellschaft. Zu Angstbesessen vor Migration und Flucht und Terror und industriellem Wandel und neuer Technologie. Kenne mer nit. Broche mer nit. Fott damit. 

Wir glorifizieren zu sehr den Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ als großartigen Menschheitsplan und bauen dennoch viel zu wenig konkret weiter an dem hohen Gewölbe, zu dessen Errichtung uns dieser Satz auffordert.  

Ihr Menschen von Brühl,

ihr habt nicht unabhängig von Geschlecht und Herkunft, unabhängig ob ihr Staatsbürgerinnen und Staatsbürger seid, unabhängig von Titeln und Besitz, unabhängig von Bildung und Macht und Religion und unabhängig davon, wen ihr liebt und wie ihr lebt, schon jetzt die praktisch gleichen Rechte in unserem Staat erlangt. Frauen verdienen weniger und haben weniger Chancen, Menschen mit anderer Religion werden herabgewürdigt, Formen der Liebe beleidigt und an den Rand gedrängt. Aber ist es nicht die wundervollste Idee unseres Grundgesetzes, dass das anders sein sollte, dass das anders sein könnte, so wir denn Willens sind, es zu ändern.

Müssen wir uns nicht täglich in all unserem politischen und sozialen Handeln gemeinsam darauf besinnen, welche Kathedrale zur Ehre der Menschlichkeit wir errichten wollen. Müssen wir nicht wieder über das Klein-Klein der täglichen Alltagssorgen hinaus den nächsten Stein auf einen Pfeiler setzen, dessen tragende Funktion wir vielleicht zu Lebzeiten selbst nicht mehr erleben werden. 

Die Geschichte der Bundesrepublik – 70 Jahre mit diesem Grundgesetz ist eine Geschichte vieler Errungenschaften. Die konkrete Freiheit, die wir heute kennen ist so viel größer als alle Freiheit, die sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes auszumalen vermochten. Wir können uns scheiden lassen ohne Schuld und zwei Männer einander heiraten, wir leben in einer europäischen Union ohne Grenzzäune und diskutieren die Abschaffung der Bundeswehr zugunsten eines gemeinsamen, europäischen Heeres. Wir teilen unsere Währung mit ehemaligen Feinden. Welch unglaublicher Baufortschritt. 

Nur zum Erliegen dürfen wir ihn nicht kommen lassen. Wir müssen uns selbst erinnern daran, dass das Undenkbare in unserem Staate im Lauf der Zeit immer wieder denkbar wurde. Wir müssen auf den angefangenen Grundpfeiler stets den nächsten Stein legen. 

Deshalb will ich Sie ermuntern, Ihren Beitrag zu leisten. Erinnern Sie sich an die Worte, die im Grundgesetz stehen, auch wenn sie sie nicht vollumfänglich erreichen. 

Wenn Sie ein Unternehmen leiten, dann schreiben Sie im Eingangsbereich ihrer Firma auf die Wand: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“, damit sie jeden Tag die Kathedrale, die zu errichten sie aufgerufen sind, vor Augen haben. 

Übersetzen Sie hier in Brühl den Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ in alle Sprachen dieser Welt und schreiben sie ihn auf die Wände ihrer Ausländerbehörde. Damit er uns Mahnung ist an jedem Tag, den Anspruch zu erfüllen, den zu erfüllen wir angetreten sind. 

Gönnen Sie sich als Stadtrat den Spaß und stellen Sie an jedem Kinderspielplatz in Brühl ein Schild auf mit den Worten des Artikel 6, Absatz 2: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Rechte der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ 

Und denken Sie darüber nach, ob sie hier in diesem wunderschönen Park nicht schaffen wollen, was es in Nürnberg schon gibt. Einen Skulpturenpark der Grundrechte, durch den Grundschulklassen geführt werden, damit sie schon im Kindesalter lernen, dass ihre Rechte unveräußerlich sind, dass kein Mensch das Recht hat sie zu schlagen – auch wenn das manchmal leider immer noch passiert – dass kein Mensch das Recht hat, sie zu schlagen oder zu bedrohen. Dass sie frei sind vom ersten Tag an ab ihrer Geburt. Auf dass ein jeder Mensch weiß, wozu wir angetreten sind, auch wenn wir im Alltag manchmal an unserem eigenen Anspruch scheitern.

In Köln steht der Dom.

Und wir sind beseelt von dem Willen, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen und haben uns dieses Grundgesetz vor 70 Jahren als Anspruch an uns selbst gegeben, auf dass wir uns messen lassen jeden Tag an den Worten: 

Die Würde des Menschen ist unantastbar. 

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